Einleitung
Onlinebeiträge, durch die Verschwörungstheorien verbreitet werden, tragen maßgeblich dazu bei, dass ihre Anhängerschaft immer weiter wächst. Diese Beiträge zu verstehen, bedeutet annähernd fassen zu können, wie die Welt aus der Sicht von Verschwörungstheoretiker:innen aussieht, wer in ihren Augen die wichtigsten gesellschaftlichen Akteur:innen sind, welche Entwicklungen wieso geschehen, wie soziale, historische und politische Entwicklungen vonstatten gehen und was bzw. wer wie zu bewerten ist. Versteht man ihre Sprache, so erlangt man einen Blick in eine bestimmte Art zu denken und in für eine bestimmte Diskursgemeinschaft legitimes Wissen.
Im Zuge dieses Beitrags versuche ich einen Einblicke in die Diskurse von QAnon Anhänger:innen zu erreichen und diese besonders auf antisemitische Codes zu untersuchen. QAnon ist eine relativ neue Verschwörungstheorie, die sich etwa seit 2017 online in nationalistischen und konservativen Communities verbreitet hat. Die zentrale Figur für die Verbreitung der Verschwörungstheorie ist Donald Trump, der besonders während seiner Präsidentschaft eine vermeintliche geheime und satanische Elite bekämpft habe, die Kinder entführe, foltere, töte und aus ihnen Adrenochrom gewinne, eine Droge, die der Verjüngung diene. Diese Elite sei aber stark und bilde eine Deep State, der nicht nur die USA, sondern die ganze Welt unterwandern wolle. Abgesehen von dieser Kernbehauptung lassen werden viele weitere Verschwörungstheorien eingliedern, sodass sich ein Netz aus unterschiedlichen Verschwörungstheorien bildet, auf die je nach kommunikativem Bedarf zurückgegriffen werden kann. Aus dem Grund wird hier auch von einem QAnon-Spektrum gesprochen.
Dieser Beitrag setzt in der Untersuchung von QAnon den Fokus auf die Reproduktion von Antisemitismus, antisemitischen Codes sowie antisemitischen Topoi. Dazu werden zuerst die wichtigsten verwendeten Termini geklärt und der theoretische Rahmen besprochen, der sich an der Schnittstelle zwischen Antisemitismus, Verschwörungstheorien und sozialen Medien befindet. Um zu analysieren, ob und wie Verschwörungstheoretiker:innen des QAnon-Spektrum Antisemitismus auf Facebook reproduzieren, wird eine an das DIMEAN Modell nach Warnke & Spitzmüller (2008) angelehnte Analyse durchgeführt. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden:
- Welche Äußerungen weisen in den Korpora auf antisemitische Tendenzen hin?
- Auf welche antisemitischen Topoi wird dabei Bezug genommen?
- Wie werden die vermeintlichen Akteur:innen der Verschwörung imaginiert? D.h. Wie werden sie benannt und mit welchen Merkmalen werden sie attribuiert?
1. Definition und verwendete Begriffe
Um den Terminus Verschwörungstheorie bestimmen zu können, muss vorerst geklärt werden, was unter Verschwörung und unter Theorie zu verstehen ist. Es ist keine Überraschung, dass der konspirationistische Theoriebegriff nicht mit traditionell wissenschaftlichen übereinstimmt, da Verschwörungstheorien weder systematisch noch falsifizierbar sind. Aus diesem Grund wurden im Laufe der Verschwörungstheorie-Forschung durchaus andere Termini vorgeschlagen, teilweise aber wieder verworfen (vgl. Butter, 2020: 53). Hepfer (2015: 23) betont zudem, dass Theorien „vereinfachte Modelle der Wirklichkeit“ seien und lediglich das Ziel hätten, ein gegebenes Phänomen zu erklären. Auch wenn Verschwörungstheorien nicht durch allgemein als legitim anerkanntes Wissen die Wirklichkeit darstellen, so sind sie doch für bestimmte Diskursgemeinschaften valide Erläuterungen eines gegebenen Phänomens. Mit dieser Reflexion wird der Terminus Theorie im Zuge dieses Artikels verwendet.
Da Verschwörungstheoretiker:innen davon ausgehen, „eine im Geheimen operierende Gruppe, nämlich die Verschwörer,“ versuche Einzelne, Gemeinschaften, Nationalstaaten oder gar die Welt zu beherrschen bzw. zu untergraben, wird eben von Theorien um Verschwörungen gesprochen (Butter, 2020: 21). Verschwörungstheorien können zwar relativ heterogensein, aber drei Annahmen, die nach Barkun (2013: 3-4) universell für Verschwörungstheorien zu sein scheinen, fasst er recht selbsterklärend so zusammen: „Nothing happens by accident. […] Nothing is as it seems. […] Everything is connected.“
Spezifisch im Zusammenhang mit QAnon muss zudem der Terminus der Superverschwörungstheorie besprochen werden, der eine Häufung mehrerer einzelner Verschwörungstheorien meint (vgl. Butter, 2020: 34). Ein Beispiel im Zusammenhang mit QAnon wäre etwa die vermeintliche Adrenochromverwendung der Eliten oder das angebliche Eingreifen Israels in die US-Regierung. Diese Verschwörungstheorien werden in das gesamte QAnon-Spektrum eingegliedert. Von einem Spektrum spreche ich hier, weil nicht alle QAnon-Verschwörungstheoretiker:innen in ihren Annahmen, Ideen und Theorien eben vollkommen übereinstimmen. Auch aus den Daten dieser Untersuchung kommt heraus, dass einzelne Mitglieder unterschiedliche Theorien heranziehen, um ihre Behauptungen zu unterstützen.
2. Antisemitismus, soziale Medien und Verschwörungstheorien
Da Antisemitismus (im Folgenden AS) eine Geschichte aufzuweisen hat, die bis in die Antike zurück geht und sich über die Zeit teils stark verändert hat, kann es auch keine allgemein gültige Definition davon geben. In dem Sinne wird hier auf die für den Kontext von Verschwörungstheorien relevanten Charakteristika von AS eingegangen.
Wenn Adorno (2001 [1951]: 200) von AS als „das Gerücht über die Juden“ spricht, so ist darunter zu verstehen, dass im AS Erzählungen über eine entindividualisierte Masse verbreitet werden, die als jüdisch imaginiert wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich ein Individuum, auf das dieses Bild geworfen wird, sich selbst als jüdisch wahrnimmt (vgl. Klug, 2013: 5). AS richtet sich demnach „gegen alles, was als jüdisch imaginiert wird“ (Grigat, 2007: 312).
AS dient laut Peham (2021: 2:26:19-2:26:24) u.a. dazu „abstrakte[…] Furcht in konkrete Angst“ umzuwandeln. Er kann also gut dafür herangezogen werden, um problematischen Situationen zu entgegenzutreten, diese in einer bestimmten inneren Logik zu erklären und vermeintlich Schuldige zu konkretisieren. Im AS kann scheinbar Unerklärbares durch ein vermeintliches Komplott einer bestimmten Gruppe, nämlich der jüdisch Imaginierten und Konstruierten, erklärt werden (vgl. Levstock, 2023: 4).
Über die Geschichte hinweg erscheint AS immer wieder in stärkeren und schwächeren Phasen, wie es Klemperer (2007 [1947]: 179) bekannterweise zusammenfasst: „Antisemitismus als soziale, als religiös und wirtschaftlich begründete Abneigung ist zu allen Zeiten und in allen Völkern, bald hier, bald dort, bald schwächer, bald stärker, aufgetreten.“ Tatsächlich hat AS seit der Antike in sich konspirationistische Züge, wie folgend kurz illustriert wird.
Die Judenfeindlichkeit der Antike ist wohl auf christliche Argumentation zurückzuführen. Schon zu dieser Zeit wurde Jüd:innen vorgeworfen, sie würden im Geheimem Komplotte gegen die christliche Gesellschaft planen (vgl. Simonsen, 2020: 357-358). Im Mittelalter fand AS einen neuen Höhepunkt; beginnend mit der Ritualmordlegende bis hin zum Vorwurf der Brunnenvergiftung und der Hostienschändung wurden Jüd:innen für das Übel der Welt und die Pest verantwortlich gemacht (vgl. Soyer, 2019: 51-64). Der mittelalterliche AS sah Jüd:innen vor allem als eine im geheime agierende, bestens organisierte, übernationale Elite (vgl. Simonsen, 2020: 358). Nach einer Phase der Emanzipation im Zuge der Aufklärung folgte eine weitere, in der AS wieder einen Aufschwung erfuhr und als politisches Mittel gebraucht wurde (vgl. Claussen, 1987: 20). Besonders von konservativer Seite wurden Jüd:innen als Drahtziehende der Moderne dargestellt, die alle bisher geltenden Werte und vor allem das Konzept der Familie zerstören wollen; zudem wurden sie zunehmend als eine Elite konstruiert, die das Bankenwesen weltweit kontrolliert, was bereits die Grundlage für den Mythos um die Jüdische Weltverschwörung stellte (vgl. Simonsen, 2020: 360). So wurde ihnen vorgeworfen, sie kontrollierten geheime politische Bünde, was besonders ab den 1850ern zu einem erneuten Anstieg von AS führte. Es erschienen zudem sowohl weitere bis heute bestehende Vorurteile als auch antisemitische Schriften, wie etwa die weit verbreiteten Protokolle der Weisen von Zion. NS-Deutschland machte konspirationistischen AS zu seinem politischen Programm, was in einem Bruch mit der Menschheit endete. Selbst danach noch führte politischer AS sowie jener im Privaten zu moralischer und gerichtlicher Verurteilung von Jüd:innen; etwa in der stalinistischen Sowjetunion, die AS hinter Antizionismus versteckte, im mittleren Osten, wo konspirationistischer AS als legitimes Wissen gilt, sowie in Europa und den USA, wo politischer AS als Tabu gilt und aus diesem Grund in Codes kommuniziert wird, die nur „Eingeweihte“ entschlüsseln können (vgl. Simonsen, 2020: 364-367). An dieser Stelle muss betont werden, dass bestimmte Bezeichnungen wie etwa Bänker oder Zionisten nicht inhärent antisemitisch sind. Sie machen aber „jenen Teilen ihres Publikums, die danach suchen, entsprechende Bedeutungsgebote, indem sie, ohne explizit [Jüdinnen und] Juden zu erwähnen, Motive aufgreifen, die aus der antisemitischen Verschwörungstheorie stammen” (Butter, 2020: 169).
Klar ist, „antisemitism was for a very long time a dominant conspiracy narrative” und aus diesem Grund ist er auch heute noch tief im verschwörungstheoretischen Denken verankert (Simonsen, 2020: 364). In Verschwörungstheorien wird grundsätzlich angenommen, eine im geheimen agierende, machtvolle und gut vernetzte Elite stehe hinter dem Übel der Welt. Genau das wurde seit Beginn des AS Jüd:innen vorgeworfen. Die Geschichte des AS zeigt, dass Verschwörungstheorien zu Gewalt, Verfolgung, Stigmatisierung bis hin zu Pogromen und Mord führen können.
Heute stellen das Internet und soziale Netzwerke maßgebliche Medien zur Verbreitung von AS dar. Tatsächlich erleben Betroffene in den sozialen Medien aktuell einen Anstieg an antisemitischen Konfrontationen (Hübscher & von Mering, 2022: 6; Schwarz-Friesel, 2020: 16; Czymmek, 2022: 191). In dem Zusammenhang kommt der Terminus Antisemitismus 2.0 immer wieder zur Sprache (vgl. Oboler, 2008). Damit sind die neuen Möglichkeiten der Verbreitung von AS gemeint, die User:innen von sozialen Medien durch diverse Arten der Informationsdarstellung und -verbreitung bekommen. Dazu gehören sowohl multimodale Darstellungsformen als auch annähernde sprachliche und geografische Grenzenlosigkeit. Hinzu kommt das Problem, das social media Unternehmen bisher nicht dafür sorgen, dass antisemitische Inhalte wirksam genug von den jeweiligen Plattformen entfernt werden, wie das Center for Counting Digital Hate (2021: 8) meldet. Zusätzlich zur Problemlösung durch das Einsetzen von Moderator:innen (vgl. Gillespie, 2018: 5-7) wird die Diskussion um die Anwendung künstlicher Intelligenz (KI) immer präsenter. Hierbei zeigt sich allerdings das Problem, dass u.a. implizit Formuliertes und antisemitische Codes – wie sie auch in diesem Artikel analysiert werden – für KI noch schwer identifizierbar sind. Hübscher & von Mering (2022: 11) identifizieren daher einen Forschungsbedarf für individuelle Studien, die die Verbreitung antisemitischer Inhalte in den sozialen Medien aufzeigen. Besondere Beachtung sollte laut Bossetta (2022: 228) dabei der Analyse von Topoi, Codes und implizit formulierten Inhalten geschenkt werden, da diese besonders normalisierend wirken können.
Insgesamt ist anzunehmen, dass die Präsenz von Verschwörungstheorien online ihre Wirkung und Verbreitung durchaus verstärkt. Dennoch sollte der Einfluss nicht überschätzt werden, vielmehr seien sogenannte Filterblasen von Bedeutung, in denen sich User:innen ständig gegenseitig in ihrem Glauben bestätigen und möglicherweise bestärken (vgl. Butter 2020: 180-181). Gleichzeitig gilt es, den intensiven Informationsaustausch auf social media nicht zu unterschätzen. Die Deutungshochheit über Plausibilität von Informationen liegt schon lange nicht mehr allein bei den traditionellen Printmedien. Der Zugang zu alternativen Informationsquellen ist durch das Internet maßgeblich vereinfacht worden (vgl. Stano 2020: 483). Zudem hat jede:r User:in die Möglichkeit, hochzuladen, was er:sie möchte und sich als Expert:in für ein Thema auszugeben (vgl. Gualda Caballero 2020: 140). Wie Butter (2020: 188) dieses Problem sehr passend beschreibt: „[O]rthodoxes und heterodoxes Wissen […] stehen oft gleichberechtigt nebeneinander.“
3. Die Reproduktion von Antisemitismus im QAnon-Verschwörungsspektrum auf Facebook
QAnon bedient sich einer Reihe antisemitischer Codes und strukturellem AS. Im Fokus dieses Artikels stehen nicht die diskursleitenden Akteur:innen der Verschwörungstheorie (Discourse Broker nach Blommaert, 1999: 9), sondern Beiträge der Personen, von denen ausgegangen werden kann, dass sie die Verschwörungstheorie zwar mitkonstruieren, nicht aber maßgeblich bestimmen.
3.1. Fragestellung und Methoden
Um zu analysieren, ob und wie sich Facebook-User:innen antisemitischer Codes und strukturellem AS bedienen, wird eine Diskursanalyse angewandt, die sich am DIMEAN Modell nach Warnke & Spitzmüller (2008) orientiert. Der Fokus liegt bei der intratextuellen Ebene auf der wort- und propositionsorientierten Analyse und auf transtextueller Ebene, also bei der diskursorientierten Analyse, auf den Topoi und der Sozialsymbolik. Die wortorientierte Analyse zeigt vor allem auffällige Schlüsselwörter, Stigmawörter, Namen sowie Ad-hoc-Bildungen auf. Im Zuge der propositionsorientierten Analyse werden diese Schlüsselwörter etc. im Kontext von AS interpretiert und näher erläutert. Dadurch ist es möglich, die Implikationen davon für die betreffende Diskursgemeinschaft zu erkennen. Die Analyse auf transtextueller Ebene macht es möglich, diese Bezeichnungen und Schlüsselwörter mit typischen antisemitischen Topoi in Verbindung zu bringen, die in den untersuchten Beiträgen reproduziert werden.
Zusätzlich wird eine Nominations- und Prädikationsanalyse durchgeführt, durch die ersichtlich wird, wie die Verschwörungstheoretiker:innen die vermeintlichen Verschwörer:innen benennen und mit welchen Merkmalen sie versehen werden.
Beim Korpus dieser Analyse handelt es sich um Kommentare und Beschreibungen von Videos eines Facebook-Users und Verschwörungstheoretikers aus den USA, dessen Profil nicht mehr öffentlich ist. Dabei wurden zwei Sets seiner Videos ausgewählt, die sowohl thematisch (s. Tabelle 1) als auch zeitlich begrenzt sind. Das erste Set besteht aus seinen veröffentlichten Videos vom 19. September bis zum 24. September 2018 und das zweite aus jenen vom 17. Dezember 2018 bis zum 18. Februar 2019. Insgesamt handelt es sich um 16 Videos unterschiedlicher Länge und mit unterschiedlich vielen Kommentaren. Einige Videos wurden gar nicht kommentiert und jenes mit den meisten Kommentaren zählt 75 Beiträge. Dabei handelt es sich um ein Video, in dem die Shoah geleugnet wird. Unter diesem Video wurde heftig debattiert, was allerdings die Ausnahme darstellt. Für die Analyse auf transtextueller Ebene wurde auch der Inhalt der Videos berücksichtigt. An der Vielfalt der Themen in diesem kleinen Korpus ist bereits zu erkennen, dass sich dieser User generell einer sehr breiten Varietät an QAnon-bezogenen Themen widmet. Die Themen der Facebook-Videos sind in der folgenden Tabelle ersichtlich gemacht. Kurze Beschreibungen der Videos 1-16 sind in Anhang A zu finden.
Tabelle 1: Themen der Videos
Themencode | Thema | Videos |
A | Vergiftung von Wasser und Lebensmitteln | 1, 2 |
B | (Eingriff in die) Industrie | 2, 3, 15 |
C | Kindermord und Pädophilie | 3, 6, 7, 8 |
D | Freimaurertum | 4, 5, 14 |
E | Rituale | 4, 6, 7 |
F | Satanismus | 5, 7, 8, 15 |
G | Adrenochrom | 7, 8 |
H | Holocaustverharmlosung und -leugnung | 9, 10, 11, 14 |
I | Zionismus und Weltbeherrschung | 11, 12, 13, 14, 16 |
J | Homosexualität | 15 |
Folgende Fragestellungen sollen Zuge der Analyse zu beantwortet werden:
- Welche Äußerungen weisen in den Korpora auf antisemitische Tendenzen hin?
- Auf welche antisemitischen Topoi wird dabei Bezug genommen?
- Wie werden die vermeintlichen Akteur:innen der Verschwörung imaginiert? D.h. Wie werden sie benannt und mit welchen Merkmalen werden sie attribuiert?
3.2. Wort- und propositionsorientierte Analyse
Da es sich bei QAnon um eine Superverschwörungstheorie (s. Abschnitt 1) handelt, gehen einige der Wortkomplexe Hand in Hand oder schließen sich gegenseitig ein. Folgend werden die einzelnen Komplexe, die im Zuge der wort- und propositionsorientierten Analyse erarbeitet wurden, anhand von Beispiel aus dem Korpus erklärt.
I Satanismus
Satanismus als Thema findet sich vor allem in Ausdrücken wie lucifer (5.1), satan (10.70.), satanism (15.) oder im biblischen Begriff synagogue of satan (10.48.) besonders, wenn von „falschen“ Jüd:innen (s. Zionismus in diesem Abschnitt) die Sprache ist. In Abgrenzung zu christlichen Lehren werden Jüd:innen oft als Anhänger:innen Satans nominiert, wobei ihr „jüdisch-sein“ nicht unbedingt explizit gemacht werden muss. Durch den Kontext wird es aber meist eindeutig, dass es sich um antisemitische Nominationen handelt:
(1) Lyor Cohen is the music industries Executive and is the reason why artist’s today are partaking in satanism and homosexuality (15.).
Oft wird dabei auch Bezug auf jüdische Lehren (8.17.2) oder auf altisraelische Mythologie genommen, um zu beweisen, dass Jüd:innen teuflische Wesen seien (7.2.). Generell scheint die untersuchte Facebook Community sehr christlich zu sein, da etwa Bibelausschnitte als legitimes Argumentationselement gelten.
II Rituale
Eng damit in Verbindung steht der Wortkomplex um Rituale, die als child sacrifice (8.), blood sacrifice (6.9.), spirit cooking (6.) oder slaughter (F.8.17.) bezeichnet werden. Diejenige Gruppe, gegen die die QAnon-Anhängerschaft verfeindet ist, führe zu unterschiedlichsten Zwecken Rituale durch. Der Großteil der Opfer seien Kinder, die für die Adrenochromgewinnung gebraucht würden. Generell werden Blutrituale und Opfergaben außerordentlich oft erwähnt. Die satanischen Anhänger:innen seien aufgrund ihres Kults dazu verpflichtet, an den Teufel Opfer zu geben. Am besten dazu geeignet seien männliche Babys von höchster Intelligenz (Video 7). Spannenderweise werden diese Rituale in fast jedem thematischen Schwerpunkt, also in den Kommentaren zu den unterschiedlichsten Videos, erwähnt. So wird bei einem Video über Freimaurer beispielsweise darüber diskutiert, dass bei deren Ritual, während dem eine Ziege geschlachtet und deren Blut getrunken worden sein soll, auf Hebräisch gesprochen würde (Video 4).
III Adrenochrom
Die Annahme um diese Rituale stehen oft in Verbindung mit dem Mythos um Adrenochrom, wobei es sich in der Tat um ein Stoffwechselprodukt des Hormons Adrenalin handelt. Im QAnon-Spektrum wird die Erzählung verbreitet, dass Adrenochrom im Zuge von satanischen Riten durch das Quälen von Babys und Kindern unter 18 gewonnen werde. Mit 18 Jahren scheint diese chemische Reaktion im Blut einfach zu verschwinden. In weiterer Folge werde es als Verjüngungsdroge konsumiert. Diese Erzählung fand im Zusammenhang mit der Beschäftigung der Verschwörungstheoretiker:innen mit Menschenhandel Einzug in das QAnon-Spektrum. Unter dem Deckmantel des Kampfes für Kinder- und Frauenrechte und gegen Pädophilie können auch Anhänger:innen von Organisationen angesprochen werden, die sich für traditionelle Familien- und Frauenbilder sowie gegen Abtreibung einsetzen.
Abgesehen von den offensichtlichen Bezeichnungen wie Adrenochrome (Videos 7 und 8) oder „drug“ (6.), sind hier auch der Rituale-, Eliten- und Kindermord-Komplex mitzudenken. Immerhin handle es sich bei Adrenochrom um eine Verjüngungsdroge, die die Elite konsumiere, um nicht zu altern und in einen Drogenrausch-ähnlichen Zustand zu gelangen. Traditionell wird Adrenochrom mit einer Elite in Verbindung gebracht, die der demokratischen Partei nahestehe (8.34.). Überraschend ist ein Video, in dem zu hören ist, dass auch die republikanische Partei nicht davon ausgeschlossen sei (Video 8). In den Kommentaren zu diesem Video wurde heftig darüber diskutiert. Tatsächlich scheinen einige der Meinung zu sein, dass beide Parteien bereits „verdorben“ seien (8.22.). Daran ist zu erkennen, dass es unter den Verschwörungstheoretiker:innen zwar inhaltliche Auseinandersetzungen gibt, der Grundkonsens aber der gleiche bleibt. Alle sind sich darin einig, dass es eine geheime Elite gebe, die irgendeine Art von Verbrechen verübe und alles beherrsche, was sie letztendlich zu Verschwörungstheoretiker:innen macht.
IV Elite
Da die Elite ein so weitgefächerter Begriff ist, ist die Benennung dieser Elite besonders heterogen. Aus der Nomination und Prädikation3 der Elite kommt der inhärent antisemitische Charakter von QAnon deutlich heraus.
Die Nomination der Elite erfolgt durch unterschiedliche Instrumente. Teilweise werden dabei Namen unterschiedlicher politischer und popkultureller Figuren (manche davon Israelis, mit jüdischem Namen oder aus jüdischen Familien), teilweise auch Unternehmen genannt. Bezeichnungen in diesem Zusammenhang wären natürlich Rothschild (10.47), aber auch Hil[l]ary (8.27.), John Podesta (8.27.) oder Marina Abramovic (7.). Wenig überraschend ist, dass zudem auf vermeintliche geheime (politische) Bünde hingewiesen wird, auf staatliche Organisationen bzw. Organe (etwa Geheimdienste oder die Justiz), aber auch auf Einzelstaaten (z.B. England oder Israel). In manchen Beiträgen wird auch auf Bünde wie Freemasons (4.) oder Jesuits (12.3.) Bezug genommen, um die es selbst einige Verschwörungstheorien gibt. An der Grenze zur Prädikation befindet sich wohl die Bezeichnung der Elite mit bestimmten politischen Einstellungen. Teilweise wird sehr breit von politics (10.47), aber auch von Democrats & [L]iberals (8.35.), teilweise von both parties (8.16) oder den Republicans (8.26) gesprochen. Eine weitere sehr breite Bezeichnung wäre Blue Bloods (7.3). Grundsätzlich handelt es sich hierbei um eher konkrete Beschreibungen der Elite. Sehr bemerkenswert ist die Benennung schlicht mit Pronomen. Alle Kommentierenden scheinen dann zu wissen, um wen es sich handelt, wenn auf they verwiesen:
(2) They are so evil (8.24.).
Die Verwendung von Pronomen ermöglicht zudem eigenständiges Interpretieren. Womöglich ist es auch egal, um wen es sich genau handelt. Die Elite sind im QAnon-Spektrum die Bösen und dabei sind sich alle einig. An dieser Stelle muss noch auf die Reihe an Maledicta hingewiesen werden, die gleichzeitig als Wertung und als Beschreibung fungieren.
An der Schwelle zur Prädikation ist die Mythologisierung der Elite zu nennen. Es wird etwa von Wesen der altisraelischen Mythologie gesprochen, wie auch davon, dass sie einer Sekte oder einem Kult angehören, Opferriten durchführen und im Zusammenhang mit Adrenochrom Kinder töten würden. Dadurch wird ihnen Brutalität, Kälte, Grausamkeit, Gefährlichkeit und Bosheit zugeschrieben. Zudem sei die Elite lügnerisch, betrügerisch und korrupt, was suggeriert, dass es sich dabei um Menschen in (politischen) Positionen handelt. In diesem Zusammenhang wird sie auch als beherrschend beschrieben. Die Elite agiere gegen die Bevölkerung (ist demnach kein Teil von ihr), kontrolliere Regierungen und staatliche Organe und handle so vor allem übernational. Zudem sollte auf die vermeintlich zerstörerischen Eigenschaften der Elite hingewiesen werden. Abgesehen von der Zerstörung einzelner Staaten, zerstöre sie traditionelle und christliche Werte. Hier findet sich sehr stark das Motiv der Jüd:innen als Drahtziehende der Moderne (s. Abschnitt 2).
Die Elite wird oft in Verbindung mit Adrenochrom und Blutritualen erwähnt. Oft wird aber schlicht nicht erklärt, worum es sich dabei handelt. Das macht es für Verschwörungstheoretiker:innen möglich, genau das, was sie wollen, in diese Elite hineinzuinterpretieren. Diese Bezeichnung gilt auch als bekannter Code unter Antisemit:innen, der das vermeintliche Weltjudentum bezeichnet (s. Abschnitt 3.3).
V Kindermord
Dieser Komplex hängt stark mit jenen um die Elite, Adrenochrom und Rituale zusammen. In diesem Zusammenhang sind die offensichtlichsten Bezeichnungen dead babies (3.), killing children (7.), kidnapp children (8.33.) oder die Behauptung, eine gewisse Anzahl an Kindern verschwinde täglich in den USA (6.4.).
In den Beiträgen herrscht der Konsens, die Elite ließe Kinder verschwinden, um durch satanische Rituale Adrenochrom zu gewinnen. Die Benennung der Personen, die für das Verschwinden der Kinder verantwortlich seien, steht in starkem Zusammenhang mit dem Perversions-Komplex. Teilweise wird von pervert[s] (8.35.) oder child rapists (8.26.) gesprochen. Diese Benennung ist extrem emotionalisierend und verstörend. Da unter manchen User:innen die Annahme herrscht, dass human baby meat (6.11.) oder andere Stoffe durch aborted fetuses (3.2.) gewonnen werden, ist in diesem Zusammenhang auch Abreibung als Schlüsselthema zu sehen. An dieser Stelle findet sich erneut der Zusammenhang zum christlich-konservativen Hintergrund, dem die Community auf Facebook anzugehören scheint.
VI Perversion
Der Konservatismus dieser Diskursgemeinschaft zeigt sich ebenfalls darin, dass homosexuality (15.) als Abnormalität konstruiert und neben pervert[s] (8.35.), pedophile[s] (7.1.) als Pejorativum verwendet wird.
Ein bekannter antisemitischer Topos macht Jüd:innen für die angeblich zunehmende Transgression von Geschlechtsidentitäten verantwortlich. Besonders Männer würden dadurch verweichlicht, effeminiert und als Superlative schließlich homosexuell (s. Abschnitt 3.3). So habe etwa Lyor Cohen, ein israelischer Staatsbürger, dessen Nachname ein typisch jüdischer ist, Homosexualität in die Musikindustrie und nach Hollywood gebracht (15.).
VII Freimaurerei
In starker Verbindung mit diesem Komplex stehen jene um Rituale und Satanismus. Die Bezeichnungen hier sind allerdings weniger weit gefächert. Es handelt sich hier hauptsächlich um die Schlüsselwörter Freemasonry (4.) und Freemason (5.).
Freimaurer sind in die Liste antisemitischer Bezeichnungen aufzunehmen, weil einerseits behauptet wird, dass Jüd:innen die Freimaurer beherrschen würden (5.) und andererseits, weil in den untersuchten Beiträgen von Ritualen gesprochen wird, die häufig in antisemitischen Verschwörungstheorien auftauchen; wie etwa dem Trinken von Ziegenblut oder dem Beten auf Hebräisch (4.). Es kommt zur Verschmelzung von Ritualen von Freimaurern und satanischen Kulten. Das würde auch aus Freimaurern kindermordende Satanisten und Teil der Elite machen.
VIII Industrie/Firmen
Das Thema der „verdorbenen“ Industrie steht in starkem Zusammenhang mit der Elite, mit den corrupt men (8.18.), die vermeintlich Hollywood und die Medien beherrschen. So gelten als wichtige Bezeichnungen in diesem Zusammenhang etwa die music industry (15.) oder der news broadcast (10.34.). Teilweise werden aber auch einzelne Namen von Unternehmen genannt. Dazu zählen Monsanto (2.), ein Unternehmen, das durch Lebensmittelvergiftungen der Elite dabei helfe, die Bevölkerung wehrlos zu machen und an die Macht zu kommen bzw. die Macht zu halten und McDonald’s (6.6.), eine Fastfood Kette, die das Babyfleisch von der Elite abkaufe, nachdem diese bereits das gesamte Adrenochrom daraus extrahiert habe. Daraus liest sich der Vorwurf, die Elite sei gut vernetzt und perfekt organisiert.
IX Zionismus
Um einiges mehr verschleiert sind die Benennungen des Zionismus bzw. der Zionisten. Das liegt daran, dass im untersuchten Material Zionismus nicht die Bestrebung eines selbstständigen jüdischen Nationalstaats meint, sondern die angebliche Verschwörung des kommunistischen Rothschild-geführten Bankenkartells, das sich dadurch erhoffe, mehr Einfluss in den USA bzw. auf der ganzen Welt zu erlangen. Laut Video 14 wurde Zionismus zudem erfunden, um vom britischen Kolonialismus abzulenken.
Sehr offensichtlich sind die Benennungen zionism (10.47.), zionists (12.5.), zionist jews (16.), zionist regime (10.27.) und Rothschild State of Israel (12.). Zudem werden Behauptungen geäußert wie the Rothschilds created Zionism (10.48.), Gott sei enttäuscht von Israel wegen der corruption by the Rothschild[s] (10.47.) oder
(3) [I]srael has so much [to] say on what goes on with OUR country (10.48.).
Dies suggeriert einerseits das Bild des Weltjuden (s. Abschnitt 3.3) und andererseits den vermeintlich aktiven Eingriff in die US-Politik. Besonders verdächtig gilt in den Beiträgen dabei, dass der israelische Geheimdienst Mossad, kurze Zeit nach einer Einwanderungswelle an europäischen Jüd:innen nach Israel gegründet wurde (10.48.). Die europäischen Migrierenden werden in den Beiträgen oft als Aschkenasim bezeichnet (10.70.), die eigentlich als die ethnische Gruppe der osteuropäischen Jüd:innen gelten. Für die Verschwörungstheoretiker:innen in den untersuchten Beiträgen sind sie aber nicht echte Jüd:innen, weil sie „ethnisch nicht semitisch“ seien (10.54.). Genau diese „falschen“ Jüd:innen seien es, die den Zionismus forciert hätten bzw. forcieren (10.54.). Die „echten“ Jüd:innen würden das nicht tun, weil sie mit orthodoxem Judentum gleichgesetzt werden (12.), laut dem Zionismus (nicht im verschwörungstheoretischen Sinne) deshalb nicht valide ist, weil ein jüdischer Staat nur von Gott begründet werden könne.
(4) These people (zionists) hijacked Judaism. Like they say their [sic] Jews and serve God but they really dont (F.12.5.).
Gleichzeitig werden aber zwei orthodoxe Juden, die behaupten, laut dem Sohar werden alle Nicht-Jüd:innen dem Judentum dienen wollen (Video 16), eindeutig nicht als orthodox erkannt und als Zionists (16.) bezeichnet. Besonders der User, der die Videos postet, scheint nicht zwischen den unterschiedlichen Strömungen und Gruppen unterscheiden zu können. Er entscheidet selbst, wer Zionist:in ist und wer nicht. Dabei werden Zionismus und Judentum, teilweise aber auch Israeli zu sein, weitgehend vermischt und verwechselt. Es ist zu vermuten, dass der User zwischen guten und schlechten Jüd:innen wie folgt unterscheidet:
- Gut: Ethnisch semitische Jüd:innen bzw. Sefardim und Misrakhim.
- Schlecht: Orthodoxe Jüd:innen und Jüd:innen, die er als zionistisch annimmt und als Aschkenasim bezeichnet. Gemeint sind damit Israelis mit europäischem Hintergrund.
X Globalisten
Der Begriff der Globalisten ist ausgesprochen vage gehalten. Er könnte alles von Zionist:innen, bis hin zu Mitgliedern der demokratischen Partei, große Hollywood-Stars und Teilhabende der „Industrie“ und der Medien bezeichnen. Wichtiger als die Bezeichnungen sind in diesem Fall wohl ihre Eigenschaften: [they] destroy our country (8.24.), erect a world state under their joint rule, disrupt Christian civilizations (10.30.). Dabei finden sich Brücken zum Zionismus-Komplex. Das zeigt sich etwa in Aussagen wie create unfair foreign policies with israel (10.27.) oder in Video 12, in dem es um die vermeintliche zionistische Infiltrierung der USA geht. Teilweise werden Verbindungen zu Verschwörungstheorien um 9/11 hergestellt:
(5) These people keep coming up when I [sic] doing my research on 9/11. I wonder why that is (16.4.).
Wiederum ist die Bezeichnung in die Liste aufzunehmen, weil es sich um einen bekannten antisemitischen Code handelt und all jenen erlaubt, eine jüdische Weltverschwörung zu sehen, die danach suchen.
XI Abwertung des Judaismus
Die Abwertung des Judentums bzw. jüdischer Kultur oder altisraelischer Mythen findet sich auf den unterschiedlichsten Ebenen. Hierbei wird stark mit Bibelstellen argumentiert. In der Bibel selbst sind einige Referenzen auf vorjüdische, phönizisch-kanaanäische Kulturen zu finden. So wird etwa auf eine Bibelstelle Bezug genommen, in der phönizisch-kanaanäische Opferriten beschrieben werden, durch die die eigenen Kinder verbrannt würden (8.17.). Dies gilt als Beweis für die teuflische „Natur“ semitischer Bevölkerung.
Immer wieder wird auf die Zerrissenheit innerhalb des Judentums hingewiesen, indem ein vermeintlicher Rabbi „zugibt“, dass irgendeine Behauptung innerhalb der Verschwörungstheorie stimme (10.56.). Dies wird besonders in Zusammenhang mit Moishe Arye Friedman erwähnt, ein ultraorthodoxer Jude, brennender Antizionist und Holocaustleugner, dem Betrug und Titelfälschung vorgeworfen werden (vgl. dazu DerStandard.at Redaktion, 2006).
In einem Beitrag wird auf das Judentum mit Jewish mysticism (16.) verwiesen, was als eine Abwertung zu verstehen ist, weil die Religion auf eine Mystik reduziert wird. Zusätzlich wird sie dadurch verlächerlicht, dass einige Male der Begriff Goj(im) (גּוֹיִם/גּוֹי) für Nicht-Jude:Jüdin verwendet wird, um gegenseitig auf sich zu verweisen. Dies soll untereinander als Erinnerung dienen, dass man von Jüd:innen als nicht gleichwertig angesehen werde.
Schließlich muss in diesem Zusammenhang auf den Begriff Nephilim eingegangen werden. Bei der alles kontrollierenden Elite handle es sich laut einem Post um Nephilim (7.2.), Mischwesen der altisraelischen Mythologie, die von menschlichen Frauen und göttlichen Wesen gezeugt wurden (vgl. Petruzzello, o.J.). Laut der Bibel handelt es sich dabei um Wesen, die Menschen überlegen seien (vgl. Petruzzello, o.J.). Da die Elite als das Böse schlechthin gesehen wird, ist die Abwertung der altisraelischen Mythologie durch ihre Attribuierung an die Elite in diesem Fall als antisemitisch zu werten.
XII Vergiftung
Dieser Komplex basiert auf der konspirationistischen Annahme, es gäbe Menschen, die für die Elite arbeiten und das Wasser und die Lebensmittel vergiften würden. Die offensichtlichsten Schlüsselwörter sind dabei natürlich poisoning (1.10.), toxic (2.) und contaminants (1.7.). Ein bestimmtes chemisches Mittel, das genannt wird, ist Sodium Fluoride (1.), das die Bevölkerung widerstandslos, apathisch und nebenbei noch krank machen soll (Video 1). Wird ein Arbeiter der Elite als „Devil’s Whore“ (F.1.8.) bezeichnet, so findet sich wieder die Annahme um einen satanischen Kult, der dahinterstecke und diese Industrie kontrolliere. Ein bestimmtes Unternehmen, das in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung zu sein scheint, ist „Monsanto“ (2.).
XIII Holocaustleugnung
In einigen Videos wird der Holocaust aktiv geleugnet und maßgeblich verharmlost. Dies wird durch eine unglaublich weite Variante an Behauptungen veräußerlicht; beginnend mit
(6) The Holocaust is a LIE (10.) und
(7) hitler brought germany back out of a deppresion [sic] (10.25.)
bis hin zu Verharmlosungen des Hakenkreuzes4 (9.). Hitler habe das Symbol lediglich ausgeliehen (9.). Implizit wird mittransportiert, dass man sich nicht vor der Verwendung des Zeichens scheuen muss. Weiters werden Die Protokolle der Weisen von Zion als echtes Dokument zu bezeichnet, das nur deshalb als gefälscht gebrandmarkt wurde, um alle Kritiker:innen als Antisemit:innen abtun zu können (Video 13). Die Shoah sei ohnehin mathematically impossible (10.) und Skeptiker:innen dieser Verleugnung werden aufgefordert: do the math (10.9.), it simply doesn’t add up (10.14).
Der Höhepunkt dieses Diskurses findet sich wohl in der Behauptung, zionistische Jüd:innen hätten die Shoah orchestriert to create unfair policies with israel (10.27). Der Rabbi Friedman gebe das sogar zu (10.48.).
An diesem Komplex sind der Globalisten- und Eliten-Komplex anzugrenzen, da aus dem Material implizit zu lesen ist, dass durch den Holocaust niemand mehr Jüd:innen kritisch gegenüberstehen dürfe und diese so ungehindert an die Macht kommen können.
XIV Banken
Dieser Komplex befindet sich in enger Verbindung mit dem Industrie- und teilweise mit dem Eliten-Komplex, da davon ausgegangen wird, dass die Elite die Banken beherrschen (12.3.). Es wird auch das Swiss gvt [=government] (12.3.) genannt, also die Regierung des Landes das bekannt für sein Bankenwesen ist. Dieser Komplex baut auf dem bekannten antisemitischen Topos des Geld- und Wucherjuden auf (s. Abschnitt 3.3).
3.3. Diskursorientierte Analyse
Die durch die wort- und propositionsorientierte Analyse identifizierten Wortkomplexe lassen auf sieben unterschiedliche antisemitische Topoi schließen. Tabelle 2 illustriert die Zusammenhänge zwischen den Wortkomplexen (I-XIV) und Topoi (in der linken Spalte).
Tabelle 2: Zusammenhänge zwischen den Topoi und Wortkomplexen aus 3.2
I | II | III | IV | V | VI | VII | VIII | IX | X | XI | XII | XIII | XIV | |
Weltjudentum | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | |||||||||
Geld- und Wucherjude | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ||||||||||
Ritualmordlegende | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ||||||||
Dämonisierung | ✓ | ✓ | ||||||||||||
Brunnenvergiftung | ✓ | ✓ | ||||||||||||
Freimaurer | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ||||||||||
Geschlechtertransgression | ✓ | ✓ |
Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, ist der am öftesten reproduzierte Topos jener der Ritualmordlegende, was natürlich auf den Fokus des Users auf Adrenochrom zurückzuführen ist. Angesichts der Kernaussage des QAnon-Spektrums wäre allerdings eine stärkere Reproduktion des Topos des Weltjudentums oder der Jüdisch-Freimaurerischen Verschwörung erwartbar gewesen.
Ritualmordlegende
Die Ritualmordlegende besagt, das Mitglieder jüdischer Gemeinden vor allem zu Pessach christliche Kinder (meist Buben) verschleppen, sie entführen, mit ihnen Rituale durchführen, sie foltern, töten und sich an ihrem Blut nähren (vgl. Erb, 2010: 293; Wolf, 2021: 152). Die ersten Vorwürfe über angeblich von Jüd:innen entführte Buben (William von Norwich, Richard von Pointoise), um mit diesen die Kreuzigung Jesus auf makabre Weise zu karikieren, stammen aus dem 12. Jahrhundert (vgl. Soyer, 2019: 57). Die Verbreitung der Legende ging hauptsächlich von England aus nach Frankreich, Spanien, entlang des Rheins und Mains bis zum Bodensee, in den Alpenraum und ab dem 16. Jh. auch nach Polen (vgl. Erb, 2010: 293). Eine weitere solche Schuldzuschreibung ereignete sich 1235 außerhalb von Fulda, nachdem fünf Söhne eines Müllers nach dem Brand der väterlichen Mühle in dessen Abwesenheit umkamen (vgl. Banning, 2003: 64). Der jüdischen Gemeinde von Fulda wurde vorgeworfen, sie hätten die Kinder regelrecht geschlachtet, um an ihr Blut kommen, und anschließend die Mühle niedergebrannt, um die Beweise zu verstecken (vgl. Soyer, 2019: 57). An zeitgenössischen Berichten dieses Falls zeigt sich erstmals die Annahme, dass diese Gräueltaten nach Vorgaben des Talmuds stattgefunden hätten (vgl. Soyer, 2019: 58). Aufzeichnungen illustrieren nämlich, dass Kaiser Friedrich II des Heiligen Römischen Reichs eine Untersuchung veranlasst hat, in der spezifisch erarbeitet werden sollte, ob es jüdische Vorgaben zum Konsum vom Blut gibt, was von den von ihm ernannten Fachpersonen verneint wurde, woraufhin er die Angeklagten befreite (vgl. Soyer, 2019: 58). Im Zuge des 13. Jahrhunderts wurden solche Anschuldigungen über einen großen Teil Europas hinweg laut, allerdings vorwiegend mit der Begründung des Parodierens der Kreuzigung Jesus, manchmal auch in Verbindung mit (schwarzer) Magie (vgl. Soyer, 2019: 58). Im 14. Jahrhundert wurden die Vorurteile verbreitet, dass das Blut gebraucht werde, entweder um Matzah für das Pessachfest oder um Heilmittel herzustellen (vgl. Soyer, 2019: 58-59). Diese Annahmen wurden ab dem 15. Jahrhundert zum Kern der Legende, die durch Geständnisse nach Folter etwa zu den Fällen von Endingen (1470), Trient (1475), Regensburg (1476) und Freiburg (1503) bestätigt wurden (vgl. Soyer, 2019: 59). Besonders der Fall gegen die Juden von Trient verbreitete sich aufgrund von Predigten, aber auch durch die Möglichkeit der Vervielfältigung durch Druck (vgl. Erb, 2010: 294). Eine der wohl extremsten Anschuldigungen ereignete sich in La Guardia in Spanien, wo einigen Zugehörigen der jüdischen Gemeinde vorgeworfen wurde, sie hätten ein Kind entführt, gefoltert und getötet, um sein Herz mit einer geweihten Hostie zu vermischen und damit die spanischen Christ:innen auszurotten (vgl. Soyer, 2021: 311, 321). Es wurde zwar weder ein Kind vermisst noch eine Kinderleiche gefunden, aber dennoch gestanden die Beschuldigten unter Folter (vgl. Soyer, 2019: 59-60). Der Kult des Kindermartyriums lebt heute noch in La Guardia fort.
Bei der Ritualmordlegende handelt sich um die ultimative Form der Entmenschlichung und Dämonisierung von Jüd:innen im Mittelalter (vgl. Soyer, 2019: 57; Johnson, 2016: 12). Die Annahme, dass christliches Blut für Pessach benötigt werde, macht das rituelle Morden zum integralen Bestandteil des Judentums (vgl. Soyer, 2019: 61), wodurch Jüd:innen als dämonisch charakterisiert werden können (vgl. Johnson, 2016: 15). Zusätzlich zur Fremdkonstruktion ergab sich dadurch während einer Zeit beginnender diverser Auslegungen des Christentums die Möglichkeit der Bildung einer homogenen christlichen Identität (vgl. Johnson, 2016: 15).
Die Geschichte von AS ist repetitiv, da dieselben Topoi immer wieder reproduziert werden, wozu aber keine exakte Wiederholung notwendig ist, sondern einfach ein Hervorrufen derselben Konnotationen ausreicht (vgl. Johnson, 2016: 17). Da der moderne AS ab dem 19. Jahrhundert zunehmend vom Christentum gelöst war/ist, wurden neue Behauptungen in die Legende eingespeist. Dazu gehört, wer alles als Opfer und Täter gelten kann, wie sich der Tatbestand an den vermeintlichen Leichen darstellte und was als Beweise für die Tat galt (vgl. Erb, 2010: 294). Im Laufe der Zeit kam immer wieder die Frage auf, wieso es nur so wenige Ritualmorde gebe, wenn es sich doch um eine religiöse Vorschrift handle. Einer der antisemitischen Antworten auf diese Frage aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zufolge seien nicht „nicht alle Juden, sondern nur eine kleine, fanatische Elite ausgewählter Männer […] in das talmudische Blutgeheimnis eingeweiht“ (Erb, 2010: 294). Der Aspekt der Elite sowie der gesamte Inhalt der Ritualmordlegende zeigt eindeutige Parallelen zu den Erzählungen um Adrenochromgewinnung.
Zudem folgt aus dem angeblichen Agieren im Geheimen (vgl. Johnson, 2016: 22) ein Zugrundeliegen des Topos des Weltjudentums (vgl. Wolf, 2021: 154).
Weltjudentum
Als Basis der Ritualmordlegende und vieler weiterer Verschwörungstheorien gilt der weit verbreitete Mythos der jüdischen Weltbeherrschung bzw. des Weltzionismus, etc. Dabei wird angenommen, dass eine jüdische Elite die Weltherrschaft anstrebe bzw. bereits innehabe, dabei Kriege orchestriere (vgl. Wetzel, 2010: 335) oder wie in rezenten Fällen etwa ein Virus auf den Rest der Gesamtgesellschaft loslasse. Oft wird nicht eindeutig gemacht, dass es sich bei der Elite um eine „jüdische“ handle, implizit oder durch bestimmte Kontextualisierungen aber dennoch deutlich gemacht. Ein Beispiel dafür wäre die Prädikation der Elite als Nephilim, Mischwesen aus der altisraelischen Mythologie, die von menschlichen Frauen und göttlichen Wesen gezeugt wurden (vgl. Petruzzello, o.J.). Die Weltverschwörung wird zwar oft kommunistisch genannt wird, was aber als Schirm für eine Jüdische steht und wird (bzw. wurde auch im Nationalsozialismus) oft gemeint, wenn vom jüdischen Bolschewismus die Rede ist/war (vgl. Pufelska, 2010: 47).
Dämonisierung
Damit und ebenfalls mit der Ritualmordlegende einher geht der Topos des teuflischen, satanischen Juden. Die Argumentation dahinter fußt auf christlicher Theologie. Dies führt zu einem Bild, dass Jüd:innen als Oppositionelle oder sogar Mörder von Jesus gesehen werden (vgl. Blum, 2010: 113). Ihnen wird dabei etwas sehr mythisches, antichristliches, diabolisches zugeschrieben (vgl. Gow, 2010: 26). Stark mit diesem Topos sind natürlich Mythologisierungen vom Judentum zu verbinden, die ebenfalls oft antisemitische Auswüchse haben. Es ist anzunehmen, dass sich der Topos des „dämonischen Juden“ besonders im streng-christlichen Umfeld verbreitet (vgl. Gow, 2010: 28).
Geld- und Wucherjude
Eng damit verbunden ist das seit dem Mittelalter bestehende Bild der jüdischen Finanzherrschaft (vgl. Escher, 2010: 348-349). Später wurde auch davon gesprochen, dass sie die Wall Street, die Medien sowie die Weltwirtschaft beherrschen würden. Daraus entstanden die Vorurteile, Jüd:innen seien reich, geizig und geldgierig (vgl. Escher, 2010: 348-349). Besonders aus der Zeit des Nationalsozialismus ist die Dichotomie des schaffenden Deutschen und des raffenden Juden bekannt (vgl. Wyrwa, 2010: 172).
Jüdisch-Freimaurerische Verschwörung
Die Jüdisch-Freimaurerische Verschwörungstheorie entstand im christlichen Umfeld des post-revolutionären Frankreich, um rezente politische Entwicklungen zu erklären (vgl. Taguieff, 2013: 28). Zu Beginn wurden Freimaurer als allesbeherrschenden, im Untergrund agierende Elite verstanden (vgl. Butter, 2020: 110). Kurz danach aber gab es schon fast keinen Unterschied mehr zwischen Freimaurern und Jüd:innen; es kam und kommt oft zu Gleichsetzungen (vgl. Butter, 2020:163-164). So ist also die Verschwörungstheorie um das Weltjudentum auch mit jener um Freimaurer verbunden. Grundsätzlich gleichen sie auffällig antisemitischen Verschwörungstheorien. Es war also sicher kein Zufall, dass die Propaganda des Nationalsozialismus Judentum, Freimaurerei und Marxismus in einem Atemzug nannte.
Brunnenvergiftung
Ebenfalls seit dem Mittelalter existiert der Vorwurf der Brunnenvergiftung als ein alter Stereotyp zur Verleumdung von Jüd:innen, dem zufolge sie lebensnotwendige Nahrungsmittel und vor allem Trinkwasser absichtlich vergiften würden, um die Allgemeinbevölkerung so hinterlistig zu töten (vgl. Soyer, 2019: 64). Besonders während der Pest fand diese Legende anklang und führte zu europaweiten Judenverfolgungen und Pogromen, aus denen hunderttausende Todesopfer hervorgingen (vgl. Herzig, 2010: 49).
Geschlechtertransgression
„In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, spätestens im Fin de Siècle setzten sich im Bildarchiv der Moderne Verschlingungen von antisemitischen und frauenfeindlichen Imagerien durch, welche zu den gesellschaftlich und kulturell überaus wirksamen Repräsentationen des ‚effeminierten Juden‘ und der ‚maskulinisierten Jüdin‘ führten.“ (Stögner, 2008: 70). Stögner (2008) beschreibt den antisemitischen Topos des effeminierten Juden, der besonders im Nationalsozialismus aufgegriffen wurde, in dem eine strikte Trennung der Geschlechterrollen sehr wichtig war. Dieses Muster existiert aber über den Nationalsozialismus hinaus und wird heute noch oft verwendet, auch (und wie im analysierten Material) verbunden mit der Abwertung von Homosexualität.
3.4. Zusammenfassung: Topos-Themen-Verknüpfung
Betrachtet man, in welchen thematischen Schwerpunkten welche Topoi aufgegriffen werden, so fällt auf, dass fast immer der Topos des Weltjudentums zugrunde liegt (s. Tabelle 3). Ähnlich häufig findet eine Dämonisierung bzw. Mythologisierung von Jüd:innen statt. Auch der Topos des Geld- und Wucherjuden findet bei fast jedem thematischen Schwerpunkt Anklang. Die Brunnenvergiftung ist der mit Abstand am seltensten vorkommenden Topos, auf den lediglich in einem thematischen Schwerpunkt Bezug genommen wird. Grundsätzlich sei angemerkt, dass all diese Topoi Hand in Hand gehen, sich teilweise gegenseitig einschließen und niemals isoliert voneinander zu betrachten sind. Dasselbe trifft auf den Charakter einer Superverschwörungstheorie zu, wie sie QAnon eine ist.
Tabelle 3: Verknüpfung der Topoi mit den Videos nach Themencodes
A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | |
Weltjudentum | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ||
Geld- und Wucherjude | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | |||
Ritualmordlegende | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ||||||
Dämonisierung | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ | |||
Brunnenvergiftung | ✓ | |||||||||
Freimaurer | ✓ | ✓ | ✓ | |||||||
Geschlechtertransgression | ✓ | ✓ | ✓ |
Die Nomination und Prädikation der Elite stimmen mit sehr vielen der Topoi überein. Die Elite wird als übernational gesehen, als agierend im Geheimen, als vernetzt, als traditionelle Werte zerstörend, als unterschiedliche Staaten beherrschend und als wichtige staatliche Organe unterwandernd. Diese Analyse unterstreicht, was durch die vorhergehenden Analysen bereits in Erfahrung gebracht werden konnte, dass nämlich in der QAnon Verschwörungstheorie sehr starke antisemitische Tendenzen zu finden sind.
QAnon kommt aus dieser Analyse als klassische Superverschwörungstheorie heraus (s. Abschnitt 1). Mit Fokus auf AS konnten einerseits die für QAnon typischen Verschwörungserzählungen (wie etwa jene um Adrenochrom), aber auch unerwartete (wie die Ereignisverschwörungstheorie um 9/11 oder der Topos der Brunnenvergiftung) herausgearbeitet werden können. Eine interessante Dynamik ergibt sich aus dem Vorwurf, die Elite gehöre einem Kult, einer Religion an und dem eigenen Verhalten der Kommentierenden. Auch hier argumentiert ein Großteil von ihnen mit Bibelstellen. Das heißt, religiöses Verhalten gilt als Vorwurf und als Habitus gleichzeitig.
Auffallend ist zudem, dass die Kommentierenden zu einem gewissen Teil selbst entscheiden können, wer oder was zur Verschwörungstheorie gehört oder eben nicht. Damit ist den einzelnen Kommentierenden eine gewisse Deutungshochheit überlassen. Die Entscheidung, wer oder was im Detail Teil der vermeintlichen Verschwörung ist, liegt beim Individuum und vielleicht stellt genau diese Möglichkeit, die Realität selbst gestalten zu können, eine gewisse Attraktivität dar.
Fazit
In Zukunft ist nicht davon auszugehen, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien Halt macht. Weil Verschwörungstheorien oft antidemokratische und menschenfeindliche Potenziale in sich tragen, gilt es, Verantwortung zu übernehmen und zu versuchen, dieser Verbreitung etwas entgegenzusetzen. Wie kann ein solcher Widerstand aber aussehen? Butter (2020: 227-229) betont, dass es keine allgemeingültige Lösung dafür gibt. Eine Möglichkeit, der Verbreitung von Verschwörungstheorien in Zukunft entgegenzuwirken, ist ihm zufolge das Lehren und Lernen von Gesellschaftskompetenz, Medienkompetenz und Geschichtskompetenz. Da Verschwörungstheorien durch Sprache leben und weitergetragen werden, zählt zu diesen Kompetenzen sicherlich das vorzeitige Erkennen konspirationistischer Terminologien und sprachlicher Strukturen, bestenfalls bevor sie in den Mainstream eindringen können. So können Personen, die sie sich langsam diese Sprache und womöglich dieses Denken anzueignen scheinen, rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht und zu Reflexion angeregt werden.
Anfang 2021 haben Verschwörungstheoretiker:innen versucht, das Kapitol der USA zu stürmen, ein Gebäude, das symbolisch für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie steht. Während der Hochzeit der Covid-19 Pandemie, einer Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt und gegenseitige Rücksichtnahme stark von Nöten waren, haben online und auf den Straßen viele besorgniserregende Protestaktionen stattgefunden. Im Zuge davon wurden einige Verschwörungstheorien öffentlich verbreitet und sichtbar. Die Sprache vieler Personen in politischen Machtpositionen hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich diese Gruppen bestärkt und unterstützt gefühlt haben bzw. fühlen. Das ist ein Beweis dafür, dass Worte – auch wenn sie über soziale Medien verbreitet werden – reale politische und wie im Falle des Sturms auf das Kapitol auch tödliche Konsequenzen haben können. Es ist daher von fortwährender Wichtigkeit, auf die gesellschaftliche Relevanz radikaler Kommunikation wie jener der QAnon-Verschwörungstheorie aufmerksam zu machen und einen Anstoß zu setzen, solche Muster bei anderen Personen zu erkennen und die eigene Sprache kritisch zu reflektieren.