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Die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), wie sie im vereinigten Deutschland geschrieben wurde, ist oft durch Narrative geprägt, die vor allem Zensur, Repression und die autoritäre Natur des sozialistischen Regimes betonen. Diese vorherrschenden Erzählungen, die insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung an Einfluss gewannen, greifen häufig auf die ideologischen Deutungsmuster des Kalten Krieges zurück, die den „restriktiven Osten“ dem „befreiten Westen“ gegenüberstellen. Dabei verstärken sie bekannte Dichotomien im historischen Diskurs. Auch wenn diese Darstellungen wichtige Aspekte der politischen Strukturen und Zwänge der DDR einfangen, besteht durch die bipolare Darstellung die Gefahr, dass sie die komplexen sozialen Realitäten des Alltagslebens im Sozialismus übermäßig vereinfachen. Versucht man, vielfältige Narrative anzuerkennen, leugnet man dadurch keineswegs politische Repression, sondern zielt darauf ab, ein differenzierteres Verständnis des ostdeutschen Lebens zu schaffen, indem Raum für Stimmen und Perspektiven geschaffen wird, die in breiteren, westlich dominierten Darstellungen oft marginalisiert wurden.
Als Reaktion auf diese tendenziell reduktiven historischen Darstellungen schlägt dieser Beitrag die Anwendung der Alltagsgeschichte (vgl. z.B. Lüdtke, 1989) als kritisches Instrument vor, um besagte vorherrschende historiographische Narrative herauszufordern. In den 1980er Jahren innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft entstanden, bietet Alltagsgeschichte einen Zugang zur Geschichtswissenschaft, der den Fokus von elitenzentrierten, hierarchischen Perspektiven auf die gelebten Erfahrungen gewöhnlicher Menschen verlagert. Er versucht, Geschichte neu zu erzählen, indem er die Perspektiven jener einbezieht, die in traditionellen Erzählungen oft ausgeschlossen wurden, und betont dabei die Bedeutung von Handlungsspielräumen und individueller Handlungsmacht. Dieser Ansatz kann als eine Form der Übersetzung verstanden werden, weniger im sprachlichen Sinne, sondern metaphorisch gesehen. So wie bei sprachlicher Translation die Bedeutungsnuancen von Texten übertragen werden und dabei neue Elemente in Zielkulturen übernommen werden, versucht Alltagsgeschichte, die subtilen Aspekte des Alltagslebens einzufangen, die in großen politischen Narrativen oft übersehen werden. Dies bedeutet, den Fokus von großen politischen Strukturen auf die Mikroebene des Alltagslebens zu verlagern und Geschichte so in eine vielfältigere, menschlichere Darstellung zu „übersetzen“.
Dieser Beitrag wendet Alltagsgeschichte auf die Geschichte der Translationspraxis in der DDR an, indem er die Berufe der (literarischen) Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen als Fallstudie nutzt, um zu untersuchen, wie diese Fachkräfte ihre beruflichen Rollen innerhalb der Zwänge einer sozialistischen Gesellschaft navigierten. In der (Translations-)Geschichtsforschung wurde sich bisher mit wenigen Ausnahmen (siehe z.B. Pokorn, 2012) vorwiegend auf schriftliche Dokumente wie Archivmaterialien, Originaltexte, Übersetzungen oder Paratexte gestützt (vgl. z.B. Rundle, 2021; Rizzi et al., 2019). Diese Quellen liefern zwar wichtige Einblicke, jedoch ist es mittels schriftlicher Dokumente oft nicht möglich, subjektive Erfahrungen der beteiligten Akteur:innen offenzulegen, insbesondere wenn Themen der jüngeren Zeitgeschichte wie etwa die DDR untersucht werden, für die mündliche Zeugnisse von Zeitzeug:innen noch zugänglich sind. Persönliche Erzählungen können in solchen Fällen die textbasierte Analyse erheblich bereichern, indem sie Dimensionen sichtbar machen, die in schriftlichen Aufzeichnungen oft verborgen bleiben. Dies ist besonders relevant, wenn es darum geht, Ost-West-Narrative zu hinterfragen und zu nuancieren, da die Geschichten von Zeitzeug:innen zusätzliche Verständnisebenen erschließen können.
Translation in politisch aufgeladenen Kontexten wie der DDR wird oft als eine Tätigkeit dargestellt, die strikt durch ideologische Vorgaben geprägt ist. Ein Großteil der Forschung konzentrierte sich bisher auf die Rolle von Zensurmechanismen und untersuchte, wie vor allem literarische Übersetzer:innen gezwungen waren, Selbstzensur anzuwenden und somit politischen Erwartungen zu entsprechen, oder auch auf Momente subtilen Widerstands gegen diese Zwänge. Diese Perspektive verstärkt die Erzählung, dass Zensur eine allgegenwärtige und umfassende Kraft war, die die Realität übersieht, dass viele Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen ihre beruflichen Aufgaben oft ohne ständige Einflussnahme oder Kontrolle durch den Staat erfüllten. Indem die persönlichen Erfahrungen derjenigen hervorgehoben werden, die in diesem Bereich tätig waren, zielt dieser Beitrag darauf ab, ein differenzierteres Narrativ über Translation als Beruf, und Translator:innen als Fachleute, innerhalb eines sozialistischen Regimes zu bieten. Dabei wird der Alltag im Berufsleben anerkannt anstatt anzunehmen, dass politische Vorgaben jeden Aspekt ihrer Berufspraxis dominierte.
Entgegen vorherrschender Narrativen berichten viele Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen, die in der DDR tätig waren, nämlich, dass Zensur eben nicht der bestimmende oder dominante Aspekt ihres Berufslebens war. Vielmehr betonen sie Situationen, in denen persönliche Entscheidungsfreiheit ihre Translationsentscheidungen leitete und ihre eigenen kritischen Interpretationen widerspiegelte, anstatt starren ideologischen Direktiven zu folgen. Solche Berichte laden zu einer Neubewertung der dominierenden Narrative von Unterdrückung und Zensur ein und zeigen, dass Translation in sozialistischen Kontexten nicht nur eine Verlängerung staatlicher Mechanismen war, sondern auch durch beruflichen Stolz und kreative Eigenständigkeit geprägt war. Außerhalb der literarischen Übersetzung arbeiteten Fachübersetzer:innen und Dolmetscher:innen häufig außerhalb der Reichweite von Zensurmechanismen. Diese Fachkräfte berichten oft von unterstützenden Arbeitsumgebungen, gekennzeichnet durch ausreichend Zeit für Übersetzungsaufträge, stabile Honorare und hohes soziales Ansehen. Der gesellschaftliche Wandel von einer sozialistischen DDR zur kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland (BRD) nach der Wiedervereinigung stellte diese Personen auch aufgrund dessen vor erhebliche Herausforderungen und erforderte eine Anpassung an neue wirtschaftliche Zwänge und schwindende berufliche Anerkennung. Die in diesem Beitrag gesammelten persönlichen Geschichten zeichnen ein komplexes Bild davon, was Freiheit in diesen kontrastierenden Systemen bedeutete. In manchen Fällen wurde die Sicherheit und Vorhersehbarkeit der DDR als ermächtigend empfunden – ein starker Kontrast zu den Unsicherheiten der kapitalistischen BRD. Solche Erzählungen zwingen dazu, tief verwurzelte Kategorien wie „befreiter Westen“ versus „restriktiver Osten“ neu zu überdenken.
Zusammenfassend fordert dieser Beitrag eine Neubewertung der Art und Weise, wie wir historische Narrative konstruieren, insbesondere im Zusammenhang mit der Ära des Kalten Krieges. Der Zugang der Alltagsgeschichte kann dabei behilflich sein, Geschichte neu „zu übersetzen“, indem sie den Fokus von großen politischen Strukturen auf die alltäglichen Handlungen von Individuen verlagert und die feinen Nuancen individueller Handlungsspielräume in größeren historischen Kontexten betont. Indem sie sich auf kleine, alltägliche Entscheidungen konzentriert, bietet Alltagsgeschichte ein detaillierteres Geschichtsbild, das die Komplexität des Lebens in der DDR jenseits der Dichotomie von Ost und West hervorhebt.
