Einführung
„Alles ist Wechselwirkung1“
Alexander von Humboldt (1769‑1859), durch seine unablässige Tätigkeit als Naturforscher und Schriftsteller, leistete einen enormen Beitrag zu dem Naturverständnis und zu der Popularisierung der Naturforschung seiner Zeit. Seine vielfältige Tätigkeit erstreckt sich von der Botanik und Zoologie, bis hin zur Chemie, Geologie und Klimatologie. Außerdem hat er sich mit demographischen und ethnologischen Fragen beschäftigt. Er war bemüht, seine wissenschaftlichen Schriften literarisch kunstvoll zu gestalten, was ihnen eine große Anziehungskraft verlieh.
Sein Werk bietet eine reiche Vielfalt von Textsorten – Aufsätze, wissenschaftliche Studien, Reiseberichten. In Reise in die Äquinoctial-Gegenden der Erde zeigt sich am besten die Breite seiner Interessen und seine Fähigkeit, konkrete Situationen genau zu untersuchen und anschaulich darzustellen.
In diesem Artikel nehmen wir vor allem Bezug auf drei Schriften, die für diese Vielfalt bezeichnend sind: die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, die erste umfangreiche Botanik-Studie Humboldts , die Reise in die Äquinoctial-Gegenden der Erde (Reisebericht seiner Reisen in Amerika zwischen 1799 und 1804), die auf Französisch verfasst wurde, und Kosmos, eine monumentale Synthese des Wissens seiner Zeit über die physikalische Welt, deren fünf Bände zwischen 1845 und 1862 veröffentlicht wurden.
Humboldt beschrieb in seinem Werk Kosmos die Natur als ein „netzartig verschlungenes Gewebe2“. Damit wollte er die ständigen Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen, sowie ihre Interaktionen mit dem Klima und den verschiedenen Gesteinsschichten betonen. Seine Naturbetrachtungen, die er in zahlreichen Schriften darlegte, behandeln die verschiedenen Komponenten von dem, was wir heute „Ökosystem“ nennen, und weisen den Weg zu den Arbeiten von Darwin, Haeckel und nicht zuletzt Jakob von Uexküll. Gleichzeitig warnte Humboldt als erster Wissenschaftler vor dem Schaden, den der Mensch der Umwelt zufügen kann: in seinem Reisebericht Reise in die Äquinoctial-Gegenden der Erde3 beschrieb er, wie die Plantagen am Valencia-See, im heutigen Venezuela, die Umwelt zerstören. Diesen Aspekt seines Werks möchten wir in unserem Beitrag besprechen. Wir werden untersuchen, wie wissenschaftliche Erklärung und politische Warnung sich hier verbinden.
Humboldts wissenschaftliche Praxis
Humboldts Praxis beruht auf drei Pfeilern: Daten sammeln, sich mit anderen Wissenschaftlern austauschen, aus den Tatsachen Verallgemeinerungen ableiten. Das Sammeln von Informationen aller Arten spielt in seinem Unternehmen eine sehr wichtige Rolle. Mit den modernsten Messinstrumenten seiner Zeit wird er sehr viele Daten sammeln und sie der Öffentlichkeit zugängig machen. Nach seiner Rückkehr aus Amerika im Jahr 1804 baut er ein Netz von Wissenschaftlern auf, durch welches er über neue, aktualisierte, und vielfältige Daten verfügen kann, die er dann in sein allumfassendes Werk Kosmos aufnehmen wird.
Humboldt entwirft im Laufe seiner Schriften ein neues Naturbild. Nach diesem Bild befinden sich alle lebenden Organismen in gegenseitiger Abhängigkeit und sind durch Wechselwirkungen miteinander verbunden. Es geht für ihn darum, „Beziehungen, welche alle Phänomene und alle Kräfte der Natur verketten4“, zu untersuchen. Humboldts unablässiges Bemühen ist darauf gerichtet, Kausalitäten und Zusammenhänge zu erschließen.
Um ein Naturphänomen zu erklären, bedient er sich mehrerer Wissenschaften: Geologie, Botanik, Meteorologie, Zoologie, Chemie. Diese entwickeln sich aus der Naturkunde des 17. und 18. Jahrhunderts und erlangen dann im 19 Jahrhundert ihre Autonomie. Es kommt häufig vor, dass ein Naturwissenschaftler mehrere dieser Disziplinen betreibt.
Wegen seiner Beiträge zu neuen Verknüpfungen zwischen bisher noch getrennten Naturwissenschaften, gilt Humboldt als einer der Geburtshelfer des ökologischen Denkens. Diese Verknüpfungen legt er in verschiedenen Schriften dar, die einzelne Fragen behandeln, wie in Ideen zu einer Geographie der Pflanzen (1807) oder Fragmente einer Geologie und Klimatologie Asiens (1832). In Kosmos, seiner letzten Buchveröffentlichung, die zugleich sein Schlüsselwerk darstellt, unternimmt er eine Zusammenfassung aller Erkenntnisse über natürliche Begebenheiten und erfasst diese unter dem Namen einer „physischen Beschreibung der Welt5“.
Als wichtigen Beitrag Humboldts kann man die Gründung einer Geographie der Pflanzen nennen, und zwar mit seiner Schrift Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, die 1807, ein paar Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika, erschien. Es handelt sich dabei für Humboldt darum, die Umwelt dieser Pflanzen und ihre Verteilung auf der Erde zu bestimmen, und nicht mehr, wie noch bei dem Botaniker Linné, die verschiedenen Pflanzen nach ihren Formen und Befruchtungsorganen zu klassifizieren. Zu diesem Zweck werden zahlreiche Faktoren in Betracht gezogen: Höhe, Feuchtigkeit der Luft, Beleuchtung im Verlauf eines Jahres, Temperatur, Beschaffenheit des Bodens. Durch diese Aufzählung erkennt man, dass hier Botanik mit Meteorologie und mit Geologie in Verbindung gebracht wird. Wenn Humboldt nicht der allererste Wissenschaftler ist, der die Wechselbeziehungen zwischen den Pflanzen und ihrer Umwelt beschreibt, so ist er doch der erste, der eine systematische Untersuchung aller einander bestimmenden Faktoren fordert und gleichzeitig durchführt.
Aus diesen Betrachtungen über die Verteilung der Pflanzen beruht seine These von einer Einheit der Natur: In einer kleinen Schrift des Jahres 1816 schreibt er: „Die Formen der organisierten Wesen stehen in einer gegenseitiger Abhängigkeit, und die Einheit der Natur enthält, dass ihre Formen sich einander durch stetige und leicht zu bestimmenden Gesetze begrenzt haben6.“
Wie sind aber die Wechselbeziehungen zwischen den Pflanzen und ihrer Umwelt dem Publikum zu vermitteln? Humboldt schlägt zu diesem Zweck ein neues Darstellungsmodell vor: ein „Naturgemälde“ soll die gesammelten Daten anschaulich machen und einen Überblick der neuen Disziplin erlauben. In diesem Gemälde wird das südamerikanische Kontinent im Querschnitt dargestellt; auf den verschiedenen Höhen werden die Pflanzenarten gezeichnet, die typisch für diese Höhen sind. Verschiedene Zonen werden unterschieden, von unterhalb der Erde bis zu den ewigen Schneefeldern in Höhenlagen. Mit dem Naturgemälde – zugleich Tabelle, Bild und Text – schafft Humboldt für diesen jungen Zweig der Naturwissenschaft eine neue Darstellungsform, die dem Leser einen Überblick verschaffen soll. Dieser Überblick, der die Verteilung der Pflanzen auf dem südamerikanischen Kontinent – um den Äquator – zeigt, enthält auch zahlreiche Faktoren, die diese Verteilung erklären: Temperatur, Höhe, Luftdruck, chemische Zusammensetzung der Atmosphäre.
Eine anschauliche Darstellung der Naturwissenschaft: Humboldts „Naturgemälde“ des südamerikanischen Kontinents
Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland, Essai sur la géographie des plantes, Paris, Levrault, Schoell et compagnie, 1805, p. 156; Biodiversity Heritage Library, Missouri Botanical Garden, Peter H. Raven Library, CC BY-NC-SA 4.0
Mit der Geographie der Pflanzen wird eine neue Haltung der Natur gegenüber deutlich. Humboldt fordert eine Wendung des Blicks auf das Ganze und behauptet den Zusammenhang aller Teile der Wirklichkeit:
In der großen Verkettung von Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Tätigkeit isoliert betrachtet werden. Das Gleichgewicht, welches mitten unter den Perturbationen scheinbar streitender Elemente herrscht, dies Gleichgewicht geht aus dem freien Spiel dynamischer Kräfte hervor ; und ein vollständiger Überblick der Natur, der letzte Zweck alles physikalischen Studiums, kann nur dadurch erreicht werden, dass keine Kraft, keine Formbildung vernachlässigt […] wird7.
Humboldt betont die Unzulänglichkeit der Betrachtung vereinzelter Tatsachen. Die Begriffe Verkettung, Gleichgewicht und Überblick spielen in dieser Charakterisierung eine wichtige Rolle. Der Begriff der Verkettung wird bis zu seinem Lebenswerk Kosmos eine Schlüsselrolle spielen.
Als Summe des um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschenden Wissens gilt das Werk Kosmos, das Humboldt als physische Beschreibung der Welt einführt. Diese soll keine Aufzählung von Tatsachen enthalten, sondern Verknüpfungen auf eine klare und allgemeine Weise darstellen. Die Natur wird als ein Ganzes betrachtet, in dem alle Phänomene miteinander verkettet sind. Er beschreibt die geplante Wissenschaft mit folgenden Worten: „[…] die Betrachtung der körperlichen Dinge unter der Gestalt eines durch innere Kräfte bewegten und belebten Naturganzen hat als abgesonderte Wissenschat einen ganz eigentümlichen Charakter8.“
40 Jahre nach der Veröffentlichung der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen wirft er einen Rückblick auf die Entwicklung der Wissenschaften und betont
den glänzenden Zustand der Naturwissenschaften selbst, deren Reichtum nicht mehr die Fülle, sondern die Verkettung des Beobachteten ist. Die allgemeinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande Interesse einflössen, haben sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wundervoll vermehrt. Die Tatsachen stehen minder vereinzelt da; die Klüfte zwischen den Wesen werden ausgefüllt9.
Diese Entwicklung macht nun die Betrachtung der Natur als ein Ganzes möglich: „Je tiefer man eindringt in das Wesen der Naturkräfte, desto mehr erkennt man den Zusammenhang von Phänomenen, die lange, vereinzelt und oberflächlich betrachtet, jeglicher Anreihung zu widerstreben schienen; desto mehre werden Einfachheit und Gedrängtheit der Darstellung möglich10.“
Wenn die Begriffe der Verkettung und des Zusammenhangs im Zentrum von Humboldts neuen Naturverständnis stehen, so ist zu betonen, dass sie aus der Beschreibung konkreter Situationen resultieren. Genau dies wollen wir jetzt anhand eines Beispiels aus dem Werk Reise in die Äquinoctial-Gegenden der Erde untersuchen.
Fallstudie einer prä-ökologischen Beschreibung: der Valencia-See in Neu-Spanien
Humboldt hat sich lange gesträubt, eine Erzählung seiner fünfjährigen Reise mit Aimé Bonpland in Amerika niederzuschreiben. Ihm war vor allem wichtig, präzise Studien und Dokumente dem breiten Publikum zugänglich zu machen (Atlanten, Zeichnungen von Pflanzen, …)
Wir möchten Humboldts Praxis anhand der Beschreibung einer bestimmten Umwelt erläutern. Diese Beschreibung befindet sich im 16. Kapitel der Reise in die Äquinoctial-Gegenden der Erde. Dieses Werk nimmt eine besondere Stellung in Humboldts Schaffen ein. Trotz zahlreichen Bitten hatte er sich zunächst geweigerte, einen Reisebericht über seine Amerikareise zu schreiben. Er verfasste schließlich das Werk Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau continent, das zwischen 1804 und 1835 veröffentlicht wurde. In diesem Werk beschreibt er jedes Phänomen ausführlich und versucht eine Erklärung zu geben, auch wenn er sie zur Zeit seiner Reise nicht gekannt hatte. Das Werk enthält eine Fülle von Darstellungen, die verschiedenen Zweigen der Wissenschaft angehören.
Humboldt berichtet über seine Erforschung der Landschaft der Täler der Aragua, zwischen Caracas und Valencia, in der spanischen Kolonie von Neu-Granada, im heutigen Venezuela gelegen. Diese Täler waren unter den ersten Gebieten, die seit der Kolonisierung durch die Spanier bevölkert wurden. Humboldt fängt mit einer Beschreibung der Region an, bevor er sich einem bestimmten Naturphänomen widmet, nämlich der Senkung des Wasserstands im See. Er erwähnt verschiedene Erklärungen des Phänomens, bevor er seine eigene darlegt und rechtfertigt: In den Tälern von Aragua befindet sich der Valencia-See, von der Größe her mit dem Genfer See vergleichbar. Am nördlichen Ufer dieses Sees wird Ackerbau betrieben (Zucker, Bananen, Kaffee, Baumwolle), am südlichen Ufer wird Tabak angebaut. Als Humboldt dort ankommt, erfährt er von dem seit Jahrzehnten beobachteten Rückgang des Wasserstands. Er interessiert sich für dieses Phänomen und macht sich auf die Suche nach dessen Ursachen. Der See weist für ihn ein doppeltes Interesse auf: für die Naturforschung einerseits, für den Wohlstand der Bevölkerung andererseits, der stark an den See gebunden ist.
Zuerst beobachtet und erkundet Humboldt die Ufer des Sees, so wie die Inseln, die sich auf dem See befinden. Er stellt unbestreitbare Spuren einer allmählichen Abnahme des Wasserstands fest. Das Gleichgewicht zwischen Verdunstung und Zufluss scheint gestört zu sein. Er stellt auch fest, dass durch diese Abnahme des Wassers die Urbarmachung des Bodens fortschreitet: „Im Maß, als der See sich zurückzieht, rückt der Landbau gegen das neue Ufer vor11.“ Es gilt also, die Ursachen und die Dauer dieser Störung zu ermitteln, so wie einen möglichen Zusammenhang mit dem Ackerbau herauszuarbeiten.
Humboldt verwirft zuerst die Hypothese einer ständigen Abnahme seit Jahrhunderten, die von einigen ansässigen Bewohnern geäußert wird. Dies scheint ihm unwahrscheinlich, denn der Valencia-See bildet den Mittelpunkt eines Systems von kleinen Flüssen, und innerhalb eines solchen Systems ,,setzen sich Flüssigkeiten, die seitlich miteinander in Verbindung stehen, in das gleiche Niveau12.“ Die Erklärung der Abnahme kann also nicht in dem Flusssystem selbst liegen.
Humboldt liefert dann zwei Reihen von Erklärungen, die das Sinken des Wasserspiegels erklären können. Die ersten Erklärungen stützen sich ausschließlich auf natürliche Prozesse, die zweiten schließen den Eingriff des Menschen als Faktor ein.
Die Verdunstung des Bodens ist ein natürliches Phänomen, das von der Trockenheit der Luft beeinflusst wird. Sie wird von drei Faktoren bedingt: die Temperatur, die Dichte der Dämpfe und der Widerstand der Luft (je feuchter sie ist, desto weniger Wasserdampf kann sie annehmen) spielen jeweils eine wichtige Rolle. Die Verdunstung macht den Ackerbau möglich, da sie die Boden fruchtbar macht: „wie kann man aber nur einen Augenblick bezweifeln, dass nur der See das Land so fruchtbar macht? Ohne die ungeheure Dunstmasse, welche Tag für Tag von der Wasserfläche in die Luft aufsteigt, wären die Täler von Aragua so trocken und dürr, wie die Berge umher13.“
Den Ursachen menschlichen Ursprungs spricht Humboldt jedoch ein größeres Gewicht zu. Damit der Ackerbau sich ausbreiten kann, hat man Wälder ausgerodet. Die Zerstörung des Waldes hat ihrerseits unmittelbare Konsequenzen auf den Kreislauf des Wassers: „Zerstört man die Wälder, wie die europäischen Ansiedler aller Orten in Amerika mit unvorsichtiger Hast tun, so versiegen die Quellen oder nehmen doch stark ab.“14 Inwiefern ist der Wald so wichtig? Durch ihn wird der Boden weniger den Sonnenstrahlen ausgesetzt, und die Verdunstung verringert. Außerdem wurden kleine Flüsse für die Bewässerung der Pflanzungen abgeleitet. In der trockenen Zeit sind diese Flüsse dann völlig ausgetrocknet.
Bei dieser zweiten Reihe von Humboldts Erklärungen wird eine scharfe Kritik an den europäischen Siedlern von Neu-Spanien und von Nord-Amerika deutlich. Denn vor allem die menschlichen Eingriffe in das Ökosystem des Sees – die Ausrodung der Bäume und die Ableitung der Flüsse – haben einen großen Einfluss auf die Umwelt geübt und sie aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Humboldt sieht menschliche Eingriffe als verantwortlich sowohl für die größere Verdunstung als für den geringeren Zufluss in den See. Da das Ökosystem ein komplexes System darstellt, bestimmen sich diese Faktoren gegenseitig: „das Verheeren der Wälder, der Mangel an fortwährend fließenden Quellen und die Wildwasser sind drei Erscheinungen, die in ursächlichem Zusammenhang stehen15.“ Drei Jahrzehnte später, während seiner Reise durch Russland wird Humboldt eine ähnliche Feststellung machen: durch Abholzung, unmäßige Bewässerung und einsetzende Industrialisierung verändert der Mensch langfristig seine Umwelt.
Heutzutage sind Feststellungen über den menschlichen Einfluss auf das Klima alltäglich und banal. Doch sie waren es zur Humboldt-Zeit keineswegs. Bei ihm knüpfen sie auf ein äußerst detailliertes Wissen über die beschriebenen Situationen an, wobei die Analyse viele verschiedene Faktoren berücksichtigt. Das Naturphänomen wird umschrieben, auf mehreren Ebenen wahrgenommen, von dem kleinsten Detail bis zum größten Zusammenhang. Das Zusammenspiel mit der menschlichen Tätigkeit kommt außerdem in Betracht.
Inwiefern äußert hier Humboldt eine politische Warnung? Sein Streben gilt ganz und gar der Erkenntnis. Seine unersättliche Neugier bringt ihn auch dazu, Tatsachen menschlicher Organisation zu beobachten, die eine positive oder schädliche Wirkung auf die Natur haben. Eine schädliche Wirkung auf die Natur ist oft, wie wir es am Beispiel des Valencia-Sees gesehen haben, mit einem Nachteil für die Gesellschaft verbunden. Natur und menschliches Dasein werden also von Humboldt als zusammengehörend gedacht. Die Abnahme des Wassers im Valencia-See deutet auf eine zu große Verwendung der verfügbaren Ressourcen hin und beruht auf einer falschen Auffassung von den natürlichen Mechanismen. Erst mit der Erschließung der kausalen Zusammenhänge werden die Bedingungen für einen adäquateren Umgang in Richtung einer dauerhaften Nutzung der natürlichen Resourcen deutlich.
Humboldts Sammeln beschränkt sich also nicht auf außermenschliche Begebenheiten. Die Verteilung der Menschen auf dem Erdboden, ihre sozialen Lebensformen, stehen auch im Zentrum von Humboldts Interesse. Dadurch beschreibt er auch die Züge der kolonialen Gesellschaft Neuspaniens, die ihm als problematisch erscheinen: die Sklaverei, die Unterernährung, die Krankheiten. Er sieht außerdem einen Zusammenhang zwischen dem kolonialen gesellschaftlichen System und der Bedrohung der natürlichen Umwelt. In seinem Aufsatz über die Insel Kuba schreibt er unmissverständlich:
„Ohne Zweifel ist die Sklaverei das größte aller Übel, welche die Menschheit gepeinigt haben, sei es, dass man den Sklaven betrachtet, wie er seiner Familie in der Heimat entrissen und in die Schiffsräume eines für den Negerhandel zugerichteten Fahrzeugs geworfen wird, oder dass man ihn als einen Teil der Herde schwarzer Menschen, die auf dem Boden der Antillen zusammengepfercht wird, betrachtet16.“
Trotzdem sollte man Humboldts Haltung dem Fortschritt gegenüber differenziert betrachten. Als Sohn der Aufklärung betont er die Bedeutung der Gewinnung von Agrarflächen für die Ernährung der Bevölkerung. In diesem Sinne lobt er die Veränderungen der Menschen an ihrer Umwelt. Manchmal kann das Ausroden von Wäldern nützlich sein, um Sümpfe abzutrocknen und Pflanzen anzubauen. Allerdings besteht in Humboldts Augen eine Gefahr in einer unüberlegten und übertriebenen Nutzbarmachung der Natur.
Schluss
In diesem Artikel haben wir festgestellt, dass Humboldts Werk nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Dimension besitzt. Sein Forschungsprogramm ist mit einer Sorge für die Umwelt und die menschliche Gesellschaft eng verknüpft. Durch ein allseitiges Beobachtungsprogramm sollen die Erde und alle auf ihr lebenden Wesen genauen Messungen und Beschreibungen unterworfen werden. Diese Daten liefern die Basis für eine allumfassende Beschreibung, die Humboldt Kosmos nennt und in dem gleichnamigen Werk vollendet. Die Naturwissenschaft entwickelt, von Beobachtung und Erfahrung ausgehend, durch Verallgemeinerungen Gesetze, deren Umfang regelmäßig wachsen muss.
Dennoch wäre es sicherlich übertrieben, Humboldt als einen Whistleblower des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen. Der historische Kontext und Humboldts Tätigkeit selbst erlauben es uns nicht. Sowohl die Lage der Wissenschaft wie die Struktur der öffentlichen Diskussion sind von unserer heutigen Lage weit entfernt. Trotzdem können einzelne Teile seiner Schriften als Mahnungen an die Regierenden und als Warnberichte für die Öffentlichkeit gelten. Damit ist Humboldt nicht nur ein Vorläufer der Ökologie, sondern auch der erste Wissenschaftler, der die mit diesem Wissen verknüpfte Botschaft und ihre konkreten Anwendungsmöglichkeiten zu vermitteln wusste.

