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Dieser Aufsatz beschwört einen „translationalen Turn“ in der Narrativen Medizin. Die Erörterung stützt sich auf zwei primäre Bemerkungen: erstens, dass Krankheit eine grundsätzlich entfremdende Erfahrung ist, die dem Sprechen einer Fremdsprache ähnelt, und zweitens, dass Diskurse über Gesundheit und Krankheit von narrativen Paradigmen dominiert werden, die nicht in der Lage sind, die wesentliche translationale (fremde und verfremdende) Sprache bzw. den Mangel an Sprache der Leidenden zu erfassen. Diese Erörterung stellt die traditionelle Auffassung von Krankheit als Narrativ in Frage und befürwortet eine disruptive Auffassung von Krankheit als Translation.

Um diese Erörterung zu untermauern, wird wie folgt vorgegangen. Zunächst plädiert man für eine neue Interpretation der Narrativen Medizin als Translation durch die Idee, dass Krankheit im Wesentlichen verfremdend ist. Anschließend werden die Charakteristika der Narrativen Medizin und das translationale Muster anhand der Analyse eines exemplarischen Falls der translationalen Epistemologie von Gesundheit und Krankheit avant la lettre entworfen und diskutiert, nämlich Margherita Guidaccis Neurosuite (1999a). Dies ist eine Sammlung von 80 Gedichten, die von der Dichterin-Patientin erlebten Erfahrung der Einsperrung in eine italienische psychiatrische Anstalt, von Schemata der (In)Kommunikabilität mit GesundheitsdienstleisterInnen sowie von den dunklen, „opaken“ Formen des psychiatrischen Wissens berichtet, die das Leiden zustande bringt.

Geschrieben von einer Frau in nicht-anglophonischer Sprache und nicht-anglophonischem Kontext (Italienisch; Italien im 20. Jh.) beleuchten diese Gedichte die Ränder der Narrativen Medizin, einer Disziplin, die in hohem Maße anglozentrisch geblieben ist (Wilson, 2023; Arnaldi und Forsdick, 2023) und die zusätzlich von einem narratologischen Gedankengang dominiert wird, der “andere Weisen der Reflexion und Darstellung der Erfahrung” (Woods, 2011, S. 202) vernachlässigt hat. Die Analyse dieser Gedichte durch die Linse der Translationswissenschaft ermöglicht es, die Krankheitserfahrung der Dichterin-Patientin mit Vorstellungen von Foreignization vor dem dreifach nicht-normativen Hintergrund von Guidaccis nicht-anglophonischer, nicht-narrativer und nicht-männlicher Perspektive zu verbinden. Der ausgewählte psychiatrische Kontext hebt demzufolge ein weiteres Element von Marginalisierung und Verfremdung (Yakeley et al., 2014; Arnaldi, 2024) hervor. Außerdem bietet er einen idealen Rahmen, um die Dynamiken der Narrativierung bzw. ihres Mangels zu erörtern, denn Konsultation – definitionsgemäß ein auf Erzählung basierender Prozess – ist das Herzstück der psychiatrischen Diagnose und Behandlung.

Zusammengenommen bieten Guidaccis Gedichte eine Synthese der vielen Möglichkeiten, wie ein translationaler Turn in der Narrativen Medizin die Werte, die der Disziplin zugrunde liegen, in den Blickpunkt rücken kann – von ihrem Fokus auf Ethik bis hin zu ihrer patientenorientierten Vision von Heilung. Die Gedichte machen auch deutlich, dass Translation von Natur aus ein selbstkritisches Konzept und eine selbstkritische Praxis ist, die uns dazu einlädt, unsere Überzeugungen und Werte zu hinterfragen, einschließlich der Annahme, dass die Translation immer nützlich und harmlos ist. Wie die in diesem Artikel vorgestellte Analyse zeigt, gibt es Zeiten, in denen wir aufgerufen sind, das Unsagbare und das Unübersetzbare als ethische und gerechte Wissensformen zu erhalten, vornehmlich in Zusammenhang mit psychiatrischem Leiden. Diese neue Lesart von Guidaccis Neurosuite bereichert unser gegenwärtiges Verständnis ihrer Dichtung als “höchst spirituell” (Wood, 2005) dadurch, dass sie die grundlegend therapeutische Dimension des Glaubens als Heilmethode sowie die Rolle der Translation als eine Form der Auseinandersetzung mit dem Anderen (per Definition Gott) unterstreicht.

Abschließend skizziert man die Prinzipien, die einer translationalen Epistemologie zugrunde liegen, einschließlich Formen der epistemischen Unklarheit, Unübersetzbarkeit und Schweigen. Es wird vorgeschlagen, dass diese Prinzipien zur Untersuchung von nicht-narrativen Berichten über Krankheit eingesetzt werden können, die häufig die Form von poetischer Kommunikation und lyrischer Erzählkunst annehmen. In dieser Analyse führt uns Guidaccis Dichtung „nel centro della notte“ (zur Mitte der Nacht; Guidacci, 1999b, S. 175). Sie zeigt einige der Möglichkeiten auf, wie eine translationale Epistemologie, die nicht-lineare, nicht-hierarchische, komplexe und mehrstimmige Möglichkeiten des Wissens privilegiert, zu gerechteren Theorien und Praktiken der Narrativen Medizin und Narrativen Psychiatrie beitragen kann, auch (und gerade) wenn die Aufgabe, die Leidenden zu erzählen und zu verstehen, fast unmöglich zu sein scheint. Als Medium zum Verständnis nicht-narrativer Darstellungen von Krankheit trägt die Translation den ,schwarzen Löchern’ Rechnung, in die psychiatrisches Wissen fallen kann, und zwar nicht, um Ignoranz zu zelebrieren oder zur Resignation aufzurufen, sondern vielmehr, um verschiedene Arten von Wissen aufzunehmen, einschließlich solcher, die inmitten von Leiden produziert werden. Man beruft sich daher auf eine translationale Wende in der Narrativen Medizin, nicht in der Absicht, Narrativität als Episteme, als Genre und als Konzept in Frage zu stellen oder neu zu erfinden, sondern in der Hoffnung, den wesentlichen, translationalen Charakter der narrativen Medizin in den Vordergrund zu rücken, der alle oben genannten Aspekte umfasst. Es wird die Meinung vertreten, dass Konzepte aus der Translationswissenschaft und der Dichtungslehre systematisch in die Narrative Medizin, in ihre Theorie und Praxis einfließen sollten. Mit diesem Aufsatz möchte man dazu beitragen, diese kritische Einbeziehung zu erreichen.

Bibliographie

Arnaldi, M. (2024). Alda Merini and the making of lyrical psyschiatry. In A. Bleakley & S. Neilson (Eds.), Routledge Handbook of Medicine and Poetry (pp. 193–205). Routledge.

Arnaldi, M., & Forsdick, C. (2023, August 30). Medical humanities’ translational core: Remodelling the field. The Polyphony. https://thepolyphony.org/2023/08/30/medhums-translational-core/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=medhums-translational-core

Guidacci, M. (1999a). Neurosuite. In M. Del Serra (Ed.), Le poesie. Le Lettere. (Original work published 1970).

Guidacci, M. (1999b). [Various poems] in M. Del Serra (Ed.), Le poesie. Le Lettere.

Wilson, S. (2023, August 3). Manifesto for a multilingual medical humanities. The Polyphony. https://thepolyphony.org/2023/05/30/manifesto-multilingual-medhums/

Wood, S. (2005). Guidacci, Margherita. In P. Hainsworth, & D. Robey (Eds.), The Oxford companion to Italian literature (online). Oxford University Press. http://doi.org/10.1093/acref/9780198183327.001.0001

Woods, A. (2011). Post-Narrative—An Appeal. Narrative Inquiry, 21(2), 399–406. https://doi.org/10.1075%2Fni.21.2.20woo

Yakeley J., Hale, R., Johnston, J. et al. (2014). Psychiatry, subjectivity and emotion: Deepening the medical model. Psychiatric Bulletin, 38, 97–101. https://doi.org/10.1192%2Fpb.bp.113.045260

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Référence électronique

Marta Arnaldi, « Synopsis: Der translationale Turn in der Narrativen Medizin: Eine Studie über Margherita Guidaccis Neurosuite », Encounters in translation [En ligne], 2 | 2024, mis en ligne le 20 octobre 2024, consulté le 27 juillet 2025. URL : https://publications-prairial.fr/encounters-in-translation/index.php?id=602

Auteur·e

Marta Arnaldi

University of Oxford, UK

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Roberto Interdonato

Universität Oxford, Vereinigtes Königreich

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